Neue Internetseite online

AWO Kreisverband Darmstadt-Dieburg für einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag in der Pflegebranche

AWO KV Darmstadt-Dieburg, Arheilger Weg 6a, 64380 Roßdorf

PRESSEMITTEILUNG DER AWO KREISVERBAND DARMSTADT-DIEBURG

Wir, der Vorstand des AWO Kreisverbandes Darmstadt-Dieburg, begrüßen ausdrücklich die Verhandlungen um einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag in der Pflegebranche. Es wird Zeit, dem Geklatsche zu Beginn der Pandemie Taten folgen zu lassen. Der Applaus hat zwischenzeitlich leider nachgelassen und gerechte Löhne sind unseres Erachtens noch weit entfernt.

Um dem Ziel einer gerechteren Vergütung näher zu kommen, wurde ein neuer Arbeitgeberverband gegründet, der mit der zuständigen Gewerkschaft einen Tarifvertrag verhandeln sollte. Beteiligt, auf Seiten der Arbeitgeber, haben sich aber nur die Bundesverbände der AWO und des Arbeiter-Samariter-Bundes. Ein mageres Interesse im Vergleich zu anderen Branchen! Die Sonderrechte der kirchlichen Verbände haben die Entwicklung eines allgemein verbindlichen Tarifvertrags nun vollständig blockiert. Der Caritasverband hat sich dagegen ausgesprochen, das Diakonische Werk hat gar nicht erst abgestimmt. An was liegt das nur?

Mit Einführung der Pflegeversicherung Mitte der 1990er Jahre hat der Gesetzgeber den sogenannten freien Markt in der Pflegebranche eingeführt; also eine politisch gewollte Ökonomisierung der Pflege alter und kranker Menschen. Zwar muss unterschieden werden zwischen den Immobiliengeschäften und der Betriebsträgerschaft von Pflegeeinrichtungen, im Kern muss aber festgestellt werden, Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und darf nicht den rein wirtschaftlichen Interessen unterworfen werden.

Träger und Einrichtungen stehen auch in dieser Branche in einem Wettbewerb. Dieser wird nicht immer über Pflege-, Wohn- und Lebensqualität geführt, sondern oft auch über die Höhe der Pflegekosten für den einzelnen Betroffenen. Vergleicht man die Pflegekostenstruktur in der stationären Pflege, lassen sich gravierende Unterschiede zwischen tarifgebunden Einrichtungen und tarifungebundenen Einrichtungen feststellen. Tarifgebunden sind überwiegend Träger der Wohlfahrtsverbände wie die AWO und kommunale Einrichtungen. Privat-gewerbliche Träger wenden in der Regel keinen Tarifvertrag an. Aufgrund des Preis- und Kostendrucks in der Pflege und der Verhandlungsphilosophie der Kostenträger gibt es aber auch Wohlfahrtsverbände und kommunale Träger, die keinen allgemein anerkannten Tarifvertrag mehr anwenden.

Ca. 75% bis 80% der Pflegekosten setzen sich aus den Personalkosten zusammen. Nur über diese Stellschraube lässt sich ein im Vergleich moderater Pflegesatz und ein Unternehmergewinn darstellen. Dies führt in der Praxis, insbesondere im privat gewerblichen Bereich, zu einem Lohndumping im Bereich der Pflegekräfte, die zu dem Mindestlohn beschäftigt werden und zu einer ungleichen Vergütung im Bereich der Fachkräfte.

Das Ungleichgewicht ist zwischenzeitlich so groß, dass ein allgemein verbindlicher Tarifvertrag, wenn überhaupt, dann nur unterhalb des derzeitigen „Leittarifvertrags“ TVöD abgeschlossen werden könnte. Träger wie die AWO oder die kirchlichen Verbände, die derzeit Tarifverträge anwenden und jetzt schon immens Schwierigkeiten mit der Refinanzierung durch die Kostenträger haben, könnten in Verhandlungen mit den Kostenträgern gezwungen werden, ihre Tarifverträge abzusenken, da nur der allgemein verbindliche Tarifvertrag akzeptiert wird.

Hinzu kommt eine regional sehr unterschiedliche Finanzierung von Pflegekosten in den Bundesländern und in den Regionen der Bundesländer. Insbesondere in strukturschwachen Gebieten ist eine Refinanzierung der entstehenden Aufwendungen kaum zu erreichen. Auch dies muss in der Regel über die Vergütungsstrukturen kompensiert werden. Aber ist der Pflegeaufwand der entsteht und bewältigt werden muss, in strukturschwachen Gebieten nicht ebenso hoch wie in Ballungszentren?

Bei aller Kritik an dem Verhalten des Caritasverbandes, einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag abzulehnen, ohne die Chance zu nutzen, eine Diskussion um die Vergütung von Pflegekräften anzustoßen, ist zu berücksichtigen, dass Caritas auch veröffentlicht hat, mit dem eigenen Tarifvertrag über dem TVöD zu liegen und befürchtet, seine Mitarbeiter*innen schlechter vergüten zu müssen.

Die Lösung liegt eigentlich auf der Hand. Wir sollten nicht nur mal für einige Tage den Pflegekräften Applaus spenden, sondern Pflege- und Pflegefachkräften mit aller Konsequenz eine gute Vergütung zukommen zu lassen. Dies lässt sich aber im derzeitigen System nicht über die Verhandlungspartner lösen, sondern eine politische Lösung ist notwendig.

Außer einer Erhöhung des Mindestlohns, wie von Arbeitsminister Heil vorgeschlagen, wäre es auch eine Lösung, den bisher besten Tarifvertrag in der Branche als allgemein verbindlichen Tarifvertrag zu erklären. Auf dieser Basis hätten dann auch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften die Möglichkeit, diesen Vertrag ständig weiterzuentwickeln. Im Pflegeversicherungsgesetz ist zu verankern, dass dieser Tarifvertrag zwingend anzuwenden ist, auch kirchliche Verbände und die privat-gewerblichen Anbieter sich dem Arbeitgeberverband anschließen müssen und ohne diese Voraussetzungen keine Pflegesatzvereinbarung möglich ist.

Neben einer besseren Bezahlung für die Pflegekräfte hätte dies auch noch den Charme, dass Pflege-, Wohn- und Lebensqualität im fairen Wettbewerb stehen und nicht mehr über Lohndumping geführt werden.

Eine bessere Bezahlung der Pflegekräfte führt zwangsweise auch zu höheren Pflegkosten. Es bleibt grundsätzlich die Frage, was ist uns als Gesellschaft die Betreuung, Begleitung und Pflege kranker und hilfsbedürftiger Menschen wert?

Die Einsicht, dass der Einzelne nicht mehr in der Lage ist, die Pflegekosten zu finanzieren, liegt auf der politischen Ebene schon vor. Die diesbezüglichen Vorschläge des Gesundheitsministers gehen derzeit in der Coronapandemie etwas unter. Er hat angedeutet, die Eigenanteile der Pflegekosten einzufrieren bzw. abzusenken und die Zuzahlungen von Angehörigen zu deckeln. Ein Weg in die richtige Richtung, aber noch nicht konsequent genug.

Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang ist auch noch die Frage der Mehrpersonalisierung. Pflegekräfte sind nicht nur unterbezahlt, sondern auch durch schwache Personalanhaltswerte zeitlich überfordert.

Zwei gute Gründe zur Erklärung des Personalmangels in der Pflege.

Die Beseitigung der benannten Mängel im Pflegesektor bedeutet eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung für die Pflegeversicherung und bedarf einiger Anstrengungen. Als erster Schritt muss weiter politisch für eine Bürgerversicherung gekämpft werden. Auch die Überführung der privaten Kranken- und Pflegeversicherung in das System der gesetzlichen Versicherungen ist überfällig.

Lange ist der derzeitige Zustand nicht mehr zu vertreten. Wir müssen uns als Gesellschaft fragen, was ist uns unser Gesundheits- und Pflegsystem wert?

Unsere Gesellschaft ist stark genug die Schwachstellen abzumildern. Wir als AWO sehen uns in der Verpflichtung darauf aufmerksam zu machen, dass es gerade in der Pflege die Frauen sind, für deren gerechte Entlohnung wir Sorge tragen müssen. 

Dafür engagieren wir uns und werden dafür Sorge tragen, dass das Thema auf der Tagesordnung bleibt.

Horst Baier
Kreisvorsitzender